Der Sohn polnisch-deutscher Juden hatte bei seiner Ankunft in der Bundesrepublik zwei große Koffer. In dem einen war sein polnischer Humor und sein polnisches Improvisationstalent, in dem anderen seine Liebe zur deutschen Literatur.
Marcel Reichwächst in Wloclawek/ Leslau an der Weichsel auf. Nach dem Konkurs der väterlichen Baustoffhandlung übersiedelt die Familie 1929 in der falschen Hoffnung auf bessere Existenzmöglichkeiten nach Berlin. 1932 suchen die Eltern für sich und ihre Kinder um die deutsche Staatsangehörigkeit an, der Antrag wird bis 1933 nicht beantwortet und dann abgelehnt. Marcel kann das Abitur machen, wird aber nicht mehr zum Studium zugelassen.
Im Oktober 1938 wird die erste behördlich organisierte Massendabschiebung von insgesamt 18.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit in mehreren deutschen Städten gleichzeitig durchgeführt. Auch Marcel Reich wird verhaftet und noch am selben Tag jenseits der polnischen Grenze ausgesetzt. Nach der Zwangsumsiedlung in das Warschauer Ghetto im Frühjahr 1940 arbeitet er als Übersetzer für den
Judenrat und für das Untergrundarchiv des Historikers Emanuel Ringelblum. Seine Eltern werden 1942 in Treblinka ermordet, der Bruder Herbert 1943 im Lager Poniatowa erschossen. Im Februar 1943 gelingt es Reich mit seiner Frau Theophila, dem Transport in das Vernichtungslager zu entkommen und unterzutauchen. Bis zum Einmarsch der Roten Armee im
September 1944 überleben die Eheleute versteckt bei einer polnischen Familie in einem Vorort von Warschau. Da noch Krieg ist, wird Reich in die polnische Armee aufgenommen und einer Zensurstelle zugewiesen, die dem "Ressort für öffentliche Sicherheit" im neu gegründeten polnischen Geheimdienst untersteht. Er hat dort die Post zu überprüfen, die polnische Soldaten nach Hause schreiben. 1945 wird er nach Lublin ins Hauptamt für Kriegszensur versetzt, 1946 in die Warschauer Geheimdienstzentrale. Ab Februar 1948 ist er in London, um dort im polnischen Konsulat sowohl für das Auswärtige Amt als auch für den Geheimdienst zu arbeiten. Er nennt sich nun Ranicki. Als Vizekonsul, später als Konsul, unterschreibt er polnische Pässe und liefert zugleich Berichte nach Warschau über die Stimmung unter den polnischen Emigranten in London. Auch Ranicki, der erst 1946 der kommunistischen Partei Polens beigetreten ist, muß die stalinistischen Prozesse,
die im kommunistischen Osteuropa fortgeführt werden, fürchten, zumal diese von Beginn an eine antisemtische Tendenz haben. Ende 1949 wird er aus London abberufen und kehrt nach Warschau zurück. Er wird kurze Zeit inhaftiert, seine Dienste als Diplomat und Geheimagent sind beendet. 1950 wird er wegen "ideologischer Entfremdung" aus der
Partei ausgeschlossen, eine bescheidene Anstellung als Lektor verliert er 1951, sein Versuch, sich als freier Rezensent über Wasser zu halten, wird in den Jahren 1953 und 1954 durch Publikationsverbot unterbunden. Zwar setzt 1956 eine "Tauwetter-Periode" genannte Phase der Entspannung auch in Polen ein, den Antisemitismus mindert das jedoch nicht. 1958 kehrt Marcel Reich-Ranicki, wie er nun heissen wird, von einer Reise in die BRD nicht zurück. Im Westen macht er eine beispiellose Karriere als Literaturkritiker. Während die Leser seine apodiktischen Urteile gerade dann schätzen, wenn sie negativ sind, seine gesammelten Rezensionen "Lauter Verrisse" (1970) ein Bestseller werden, "Lauter Lobreden" (1985) aber nicht, bleibt die Meinung der Autoren gespalten, je nachdem, ob sie von ihm günstig beurteilt werden oder nicht. 2002 führt der gegen ihn gerichtete Roman "Tod eines Kritikers" von Martin Walser zu Diskussionen über den Antisemitismus in der BRD.