Die Tatsache, daß Marcel Reich-Ranicki zwischen 1944 und 1950 für den polnischen Geheimdienst tätig war, wurde in der BRD erst im Mai 1994 durch den Journalisten Tilman Jens, Sohn des mit Reich-Ranicki befreundeten Rhetorikprofessors Walter Jens, bekannt. In der dpa-Meldung behauptete Jens auch, Reich-Ranicki habe als polnischer Konsul in London die Aufgabe übernommen, Mitglieder der polnischen Exilregierung zur Rückkehr nach Polen zu bewegen, wo sie bei ihrer Ankunft vom KGB verhaftet und einige später in den Gefängnissen ermordet wurden. In einer 2 Tage später dazu ausgestrahlten Fernsehsendung relativierte der WDR die Anschuldigung stark, nahm sie aber in der Formulierung, "ob Herr Reich-Ranicki an der Rückführung von Exilpolen direkt beteiligt war, ist nicht zu beweisen", auch nicht ganz zurück. In den folgenden Monaten wurde Reich-Ranicki von der deutschen Presse immer wieder zur Rede gestellt. In erstaunlicher Naivität über die Natur eines Geheimdienstes wird ihm wiederholt vorgehalten, seine ehemalige Agententätigkeit "verschwiegen" zu haben. Daß Reich-Ranicki seine Auskunftspflicht in Sachen Geheimdienst auf das beschränkt, was in Polen an Dokumenten freigegeben wird, wird ihm als verspätetes Schuldeingeständnis zur Last gelegt. Ein Gespräch, das die SPIEGEL-Autoren Volker Hagen und Mathias Schreiber im Juni 1994 mit ihm führen, endet mit dem Satz: "Es bleibt der Eindruck, daß Sie erst dann etwas einräumen, wenn es bekannt geworden ist. Haben wir noch andere Enthüllungen zu erwarten?" Darin enthalten war unausgesprochen die Drohung, den Fall Reich-Ranicki nur vorläufig abzuschliessen, um bei Gelegenheit wieder darauf zurückzukommen. Diese bot sich 1999, als Reich-Ranickis Autobiografie "Mein Leben" erschien. Dort erzählt er ausführlich von seiner Zeit im Geheimdienst, doch wer ein Bekenntnis erwartet hatte, daß er in London seine polnischen Landsleute ans Messer des KGB geliefert habe, war enttäuscht. Im Sommer 2002 wurde das Thema "Marcel-Reich und der polnische Geheimdienst" in der deutschen Presse erneut diskutiert. Der Anlaß war, daß die alte Personalakte Marcel Reich-Ranickis aus dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit vom Institut des Nationalen Gedenkens (der polnischen Entsprechung der Birthler-Gauck-Behörde) freigegeben wurde. Nach Ansicht des Warschauer Historikers Wlodzimierz Borodziej ist der Inhalt für eine Beantwortung der Frage, ob und in welchem Maße Reich-Ranicki als Konsul in London bei der Repatriierung von Emigranten beteiligt war, ungeeignet. Die NZZ schrieb, wenn Reich-Ranicki "an frühen Verbrechen des kommunistischen Regimes Volkspolens auch nicht selber mitwirkte, so dürfte er sie doch aus beträchtlicher Nähe miterlebt haben" und schränkte so den Vorwurf auf eine (schuldhafte) Mitwisserschaft ein. Diskutiert wurde in der deutschen Presse, ob Reich-Ranicki als Opfer des Holocaust den Deutschen gegenüber auskunftspflichtig ist. Nicht in Rechnung gestellt wurde, daß er auch ein Opfer des Stalinismus war. Während die Geschichte des polnischen Geheimdienstes für Deutschland eine eher marginale Bedeutung hat und nur im Zusammenhang mit Reich-Ranicki die große Beachtung fand, wurde dessen Rolle als polnischer Geheimagent in Polen so gut wie nicht diskutiert. Die Tageszeitung Rzeczpospolita meinte: "Der Fall Reich-Ranicki ist eine deutsche Angelegenheit." Nach Meinung Borodziejs findet die deutsche Debatte in Polen keine Entsprechung, weil dort das Interesse an der Person des vor mehr als vier Jahrzehnten emigrierten Literaturkritikers fehlt, was wiederum damit zu tun habe, daß dieser, indem er sich mit deutschsprachiger und nicht mit polnischer Literatur beschäftigt, in seiner Arbeit keinen Bezug zu Polen hat.