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Deutsche & Polen

Die Gründe für eine neue Ostpolitik

Heinrich-August Winkler
Biografie

Generationenwandel ist ein ganz wichtiges Moment, wenn es darum geht, diesen Veränderungsprozess zu erklären. Dann kommt dazu das kritische Nachdenken über die Ursachen des Zweiten Weltkrieges. Die Einsicht, dass Deutschland die Schuld an diesem Krieg trug, die setzte sich immer mehr durch. Bis hin zu der Bereitschaft, auch die Konsequenzen der Niederlage zu tragen. Sich selbst nicht mehr so sehr als Opfer zu sehen, sondern auch die Täterrolle Deutschlands in Rechnung zu stellen. Das war das Ergebnis langanhaltender kontroverser Debatten. Aber in der 60er Jahren hatte sich die Einsicht weitgehend durchgesetzt, dass auch die deutsche Teilung ein Ergebnis deutscher Politik und deutscher Schuld war. Dann kam die weltpolitische Lage hinzu, die seit dem Ausgang der Kubakrise 1962 von Entspannungsbemühungen geprägt war. Solange die Bundesrepublik auf dem Standpunkt beharrte, dass Deutschland in den Grenzen von 1937 fortbestehe, dass die Wiedervereinigung erfolgen müsse bevor es eine wirkliche Entspannung gäbe, solange bestand die Gefahr einer zunehmenden Selbstisolierung der Bundesrepublik gegenüber ihren Verbündeten im Westen. Die Brandt'sche Ostpolitik hat im Endeffekt dazu geführt, dass dieser deutsche Sonderkonflikt mit dem Osten - von dem 1974 der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal sprach - beendet wurde, Deutschland sich in das Lager der Entspannungsfreunde einreihte. Damit gewann die Bundesrepublik an Handlungsspielraum. Das alles, denke ich, muss man in Rechnung stellen, wenn man die zunehmende Bereitschaft erklären will, die Realitäten anzuerkennen, die das Ergebnis des Zweiten Weltkkriegs waren. Mit dem Vorbehalt natürlich, dass in Sachen der deutschen Teilung noch viel zutun war, um die Folgen der Spaltung zu überwinden, um mindestens die Menschenrechte in der DDR durchzusetzen. Wenn auch schon die Hoffnung auf einen unabhängigen deutschen Nationalstaat immer mehr dahin schwand, das Ziel der staatlichen Einheit zwar beschworen wurde, aber nicht eigentlich Ziel der praktischen Politik war.

Quelle:
Stubenrauch, Jens
"Interview mit Heinrich-August Winkler, Historiker, Humboldt-Universität Berlin"
ORB, 2002

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