Polen hat seine politische Souveränität [1989] wiedererlangt. Es gelangt auch zu seiner geistigen Souveränität. Ihr Maß ist das Gefühl der moralischen Verantwortung für die ganze Geschichte, in der es – wie immer – helle und dunkle Seiten gibt. Als Volk, das vom Krieg besonders heimgesucht wurde, haben wir die Tragödie der Zwangsumsiedlungen kennengelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. Wir erinnern uns daran, daß davon auch unzählige Menschen der deutschen Bevölkerung betroffen waren und daß zu den Tätern auch Polen gehörten.
Ich möchte es offen aussprechen, wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben.
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Der Begriff Europa läßt sich meiner Meinung nach nicht auf den rein geographischen Terminus verengen. In der Geschichte der Völker und Staaten dieses Kontinents hat dieser Begriff eine zivilisatorische Bedeutung angenommen. Er wurde zu einem kollektiven Symbol für fundamentale Werte und Prinzipien. Europa, das bedeutet vor allem die Freiheit der Person, die Menschenrechte – politische und ökonomische. Das ist eine demokratische und von Bürgern getragene Ordnung. Das ist der Rechtsstaat. Das ist eine effektive Wirtschaft, die sich auf individuelles Unternehmertum und Initiative stützt. Gleichzeitig ist es die Reflexion über das Schicksal des Menschen und die moralische Ordnung, die den jüdisch-christlichen Traditionen entspringt.
Ein so verstandenes Europa war mit dem geographischen Europa nicht immer deckungsgleich. Zu Beginn der europäischen Geschichte war das Athen des Perikles Europa. Heute gehören zu den Erben de europäischen Zivilisation auch weit entfernt liegende Länder auf anderen Kontinenten, wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien.
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Man kann sagen, daß die Überwindung der Teilung Europas auf symbolischer Ebene in Berlin begonnen wurde, als die Mauer fiel. Dieser Prozeß schreitet voran. Damit er jedoch erfolgreich ist, muß er einige fundamentale Voraussetzungen erfüllen.
Erstens, muß er auf dem Fundament gemeinsamer europäischer Werte basieren. Vor allem sollte gerade die Akzeptanz dieser Werte über die Zugehörigkeit zu Europa und den europäischen Institutionen, die seine Identität definieren, entscheiden.
Zweitens erachten wir, die Polen, als den wichtigsten Wert unter den europäischen Werten die Offenheit gegenüber jenen Menschen, die durch ihre alltägliche von Entbehrungen nicht freie Arbeit und hartnäckige Arbeit zugunsten von Veränderungen einen Beweis dafür liefern, daß sie bereit sind, der gemeinsamen europäischen Sache zu dienen. Wir meinen, daß der Fortschritt im Bereich der Reformen in den postkommunistischen Staaten mit der entsprechenden Intensität des Integrationsprozesses gegenüber diesen Staaten eng verbunden sein sollte.
Drittens, seitens der westlichen Partner, auch Deutschlands, möchten wir klar den Willen erkennen, die europäischen sowie euroatlantischen zu öffnen und zu erweitern. Wir hoffen, daß im Westen nicht wiederum ein enger „Realismus“ dominiert im Sinne von „Einflußzonen“, „Puffern“ oder Anerkennung von „historischen Interessen“ der Nachbargroßmächte, die in Jalta Triumphe gefeiert haben.
Aus dem obigen ergibt sich eine weitere, vierte Bedingung, nämlich daß der nach Osten ausgerichtete Integrationsprozeß nicht angehalten wqird.
Wir wollen weder alte noch neue europäische Teilungen. Wir wünschen einen ständigen Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses, zu dem die kürzlich erfolgte und besondere Etappe, die Vereinigung Deutschlands gehört.