Seit Juni 1944 war ich „ im Walde“. Unter diesem Begriff verstanden damals die jungen Polen den freiwilligen Dienst in einer Feldeinheit der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa (Heimatarmee). Im damaligen Amtsdeutsch hieß das Mitglied einer Bande oder noch kürzer: ein Bandit zu sein. Kommandant meiner Abteilung, die nach seinem Decknamen „Cyprian“ genannt wurde, war ein Berufsoffizier aus Leszno (Lissa). Die Einheit war 80 bis100 Mann stark und bildete mit drei oder vier anderen Einheiten das 72. Infanterieregiment der Heimatarmee. Unser „Operationsraum“ war das Gebiet um das Heilig-Kreuz-Gebirge (Góry Swietokrzyskie) in Mittelpolen. Im Juni und Juli hatten wir Gefechte vorwiegend mit den im deutschen Dienst stehenden Ostlegionären (meist Kalmücken und Kosaken), aber auch mit Einheiten der deutschen Polizei und der Wehrmacht. Im August versuchten wir erfolglos, nach Warschau durchzubrechen. Nach der Niederwerfung des Warschauer Aufstandes wurde unsere Lage sehr schwer. Die deutsch-sowjetische Front verlief in einer Entfernung von 20 bis 30 Kilometern, die ganze Gegend war voll deutscher Truppen, und wir hatten keine Chance mehr. Seit Ende November kamen dazu die Schneefälle und zunehmende Versorgungsschwierigkeiten. Unter diesen Umständen beschloss das Oberkommando der Heimatarmee, alle Einheiten der Armia Krajowa im Heilig-Kreuz Gebirge aufzulösen. „Im Walde“ sollte nur die Abteilung „Cyprian“ bleiben. Welche Aufgaben man für uns vorgesehen hatte, weiß ich nicht. So oder so machten wir Erkundungs- und Streifendienste, vor allem aber lange Nachtmärsche, da wir unseren Standort so oft wie möglich wechseln mussten.
Es war ein Sonntag, kurz vor Weihnachten, ungefähr acht Uhr morgens. Wir marschierten bereits vier bis fünf Stunden in Richtung eines 20 Kilometer entfernten Walddorfes. Es wurde gesagt, dass man uns dort erwarte und gute Unterkünfte (soll heißen: Scheunen mit Stroh und Heu), Brot, Kartoffeln und warme Milch vorbereitet seien. Obwohl der Marsch in voller Ausrüstung im dunklen Wald sehr anstrengend war, kamen wir zu neuen Kräften, als die Spitze meldete, dass wir uns schon dem Zielort nähern. Plötzlich bekamen wir Befehl haltzumachen, Stellungen zu beziehen und die Waffen zu entsichern. Irgend etwas war los. Nach einer Weile stellte sich heraus, dass unsere Spitze zwei deutsche Soldaten gefangengenommen hatte. Es waren zwei Unteroffiziere aus einer frisch aus Deutschland angekommenen Einheit. Sie fuhren mit dem Motorrad an einem schönen Waldkomplex vorbei und kamen auf den Gedanken, ein paar Hasen oder ein Reh zu schießen. Nun waren sie den Partisanen in die Hände gefallen. Wahrscheinlich kannten sie die Regel des Partisanenkrieges: Gefangene werden nicht geschont. Die beiden Soldaten waren nicht jung, wenigstens im Vergleich zu uns. Sie waren tödlich erschrocken. Der ältere wiederholte immer wieder „Bitte nicht erschießen, ich habe drei kleine Kinder, bitte, nicht erschießen“ Auf meine Frage nach seinem Wohnsitz und Beruf antwortete er, er sei ein Bergmann aus Remscheid. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, aber ich tat das ohne Überzeugung: Ich kannte die Regeln. Ich fühlte Mitleid mit den beiden, und ich sagte dies meinen Kameraden, die die Gefangenen eng umzingelten. Ich fand nur wenig Verständnis. Inzwischen bemerkten wir, dass der Kommandant, sein Vertreter und unser Feldgeistlicher (er war ein Priester aus der Pfarrkirche in Radom) lebhaft diskutieren. Nach etwa 15 Minuten kam der Befehl, die Gefangenen dem Kommandanten Cyprian vorzuführen (er sprach gut deutsch). Er sprach mit beiden deutschen Unteroffizieren wenigstens eine Viertelstunde. Dann wurde befohlen, dass die Gefangenen zu ihrem Kraftrad hingeführt werden. Die beiden Reifen sollten durchlöchert und die Gefangenen in Ruhe gelassen werden. Ihre Gewehre mit einem Schuss Munition seien ihnen zurückzugeben. Ich war einer der vier Partisanen, die die Gefangenen auf dem Weg zu ihrem Kraftrad begleiteten. Wie befohlen, haben wir die Reifen durchlöchert und die Gewehre zurückgegeben. Die Ex-Gefangenen ließen wir am Straßenrand stehen.
Ich war zufrieden bis zu dem Moment, als wir zurückkamen. Man hatte nur auf uns gewartet, und dann kam der Befehl: „Kehrt um. Im Eilmarsch vorwärts.“ Die Kameraden sagten mir, dass wir wegen der beiden freigelassenen Gefangenen aus Sicherheitsgründen nicht wie geplant in das Dorf gehen könnten. Aus der warmen Milch, dem Brot und den Kartoffeln ist nichts geworden. Müde und hungrig marschierten wir weitere drei Stunden, um eine kleine Waldsiedlung zu erreichen. Dort hatte man uns jedoch nicht erwartet. Zu Essen gab es auch nichts. Ich schäme mich, wenn ich mich heute an meine damaligen Gedanken erinnere. Am Weihnachtstag wurde auch die Abteilung "Cyprian" aufgelöst. Die zwei Unteroffiziere waren die letzten Deutschen, mit denen ich in der Kriegszeit gesprochen habe.